Planungen
nicht zum Besten der Stadt
Über
ihre Kindheitserinnerungen, die sie mit dem Oberhagen verbindet, schreibt
Evamarie Baus-Hoffmann in ihrem Leserbrief.
Die Sorge
vieler Warsteiner um den Rest-Erhalt ihres Naherholungsgebietes Oberhagen
sind mir durch Artikel im Warsteiner Anzeiger bekannt. Ich wohne nun
schon seit 50 Jahren nicht mehr in Warstein, aber die Anliegerinnen
am Suttroperweg - Anne Müller, Gudrun Kropff und Birgit Fisch -
sprechen mir mit ihrem Leserbrief vom 11. März 2006 aus der Seele.
Ich bin vor 78 Jahren im Haus Hauptstraße 24 in Warstein zur Welt
gekommen. Hinten im Garten konnten wir durch ein Törchen in die
unberührte Natur unterhalb des Oberhagens einsteigen. Zwischen
Felsen, Gräsern und Wildblumen führte ein verschlungener Pfad
den Berg hinan. Mein Vater kannte sich dort aus, und er nahm mich an
schönen Sommertagen oft Sonntagmorgens mit.
Ich war noch klein, aber ich weiß noch genau, wie gut es dort
im Berg duftete. Thymian, Kamille, Johanneskraut, Schafgarbe, Nelken,
Glockenblume, Zittergras und Blaugras verströmten ihr unterschiedliches
Aroma. Mein Vater war ein großer Naturliebhaber, und er erklärte
mir die einzelnen Pflanzen. Er wusste auch, wo wilde Erdbeeren zu finden
waren. Die sammelte ich in mein Körbchen. Dann setzten wir uns
an den Hang auf ein weiches Rasenpolster, und wir spießten sie
auf einen langen, kräftigen Grashalm auf, um sie Mutter mitzubringen.
Dabei machte mich Vater auf die Vogelrufe aufmerksam: „Horch,
da flötet eine Amsel, da zirpt eine Meise, da hämmert ein
Specht."
Als wir später in die Wästerstraße umzogen, war der
Oberhagen unser Naherholungswäldchen. Wir streiften kreuz und quer
hindurch, gruselten uns vor der eingezäunten Schlucht inmitten
des Areals, sammelten im Mai Maikäfer in eine Zigarrenschachtel,
pflückten Himmelsschlüssel und Buschwindröschen für
unseren Maialtar und im Herbst Schlehen und Nüsse für den
Winter. In der Biologiestunde wanderten wir mit unserer Klassenschwester
dorthin und hielten auf der kleinen Wiese am Wald den Biologieunterricht
ab. Schwester Raphaelita, sie ist vor einigen Wochen 93-jährig
verstorben, hat sich immer, wenn ich sie in Mülhausen besuchte,
erkundigt; ob auch noch Aaronstab und Frauenschuh im Oberhagen wachsen.
Zum Gedichtelernen - und wir mußten viele und lange Gedichte auswendig
lernen - ging ich immer in den Oberhagen. Die „Kraniche des Ibykus",
das 23 Strophenepos von Schiller, habe ich auf dem Weg nach Suttrop
laut lernend und mit Pathos verinnerlicht. Auch der Suttroper Pastor
betete sein Brevier auf dem Waldweg. Vokabelnlernen ging auf der Bank
am Wald, wo einen keiner störte, viel schneller vonstatten.
Wie oft haben wir in den 30er und 40er Jahren manches Picknick auf der
kleinen Wiese gemacht. Als der Krieg zu Ende ging, sahen wir vom Dachfenster
des Hauses aus, wie die Amerikaner von Suttrop und Kallenhardt anrückten.
Auf der Bank am Oberhagen habe ich mir meinen ersten Liebeskummer von
der Seele geweint. Und später dann mit meinem Mann dort Händchen
gehalten. Bei jedem Warstein-Besuch fahre ich auch heute noch zum Oberhagen,
und es wäre schön, wenn ich das auch für den Rest meines
Lebens noch tun könnte. Mir ist klar, dass eine Stadt nicht von
romantischen Nostalgieträumen leben kann. In der Bibel steht: „Suchet
der Stadt Bestes". Ich fürchte aber, dass solche Planungen
nicht zum Besten der Stadt Warstein und ihrer Bewohner sind.
Evamarie Baus-Hoffmann
Goethestraße 35
Fröndenberg
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