A. Hecker (1984)

Der Oberhagen
Aloys Hecker

Nicht erst jetzt, da der Blick für die Natur durch die fortschreitende Zerstörung der Umwelt geschärft worden ist, sondern auch schon in früheren Jahrzehnten galt der Oberhagen auf der Höhe zwischen den Stadtteilen Warstein und Suttrop als floristisches Prunkstück des heimischen Raumes. So findet auch heute noch und hoffentlich noch lange der Wanderer, der dieses kleine Waldgelände mit offenen Augen durchstreift, eine Fülle teils seltener Arten.
Um den Oberhagen voll erfassen zu können, sollte man sich jedoch nie allein auf seine Flora beschränken. Auch die Geschichte und die Geologie dieses Raumes geben interessante Aufschlüsse. In früherer Zeit reichte das Waldge¬lände bis in den Bereich der jetzigen B 55. Steht man jetzt am Westrande des Oberhagens, so hat man einerseits einen weiten Blick über die Talsenke der Wäster, andererseits gewahrt man aber auch die zerstörerischen Eingriffe des Menschen in die Landschaft. Hier z. B. ist die gesamte westliche Hangseite durch die Arbeit eines Steinbruchbetriebes verloren gegangen. Ein markantes Felsmassiv, der Hohe Stein, ist allerdings nicht durch Abbruchtätigkeit entstanden, sondern natürlichen Ursprungs.
Eine weitere Auffälligkeit stellt eine tiefe Grube im mittleren Bereich des Waldes dar. Die rötlichbraune Färbung der steil abfallenden Wände weist daraufhin, daß es sich hierbei um eine Eisenerzgrube handelt, die Grube „Rom“, aus der im Tagebau Rot- und Brauneisenerze gefördert wurden. Diese Förderung wurde allerdings im 19. Jahrhundert wegen Unrentabilität wieder eingestellt.
Forstwirtschaftlich ist der Oberhagen von geringer Bedeutung. In vergangenen Zeiten wurde er in Form eines Niederwaldes für die Brennholzgewinnung und die Schweinehude genutzt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelte er sich zum Hochwald, wie er heute noch vorhanden ist.
Den geologischen Untergrund bildet der für den Warsteiner Raum typische 500 bis 700 Meter mächtige Massenkalk devonischen Ursprungs, der nicht nur die Basis für eine charakteristische Kalkflora, sondern in verschiedenen Stadtteilen auch für die wirtschaftliche Nutzung in vielen Kalksteinbrüchen bietet. Überlagert wird diese Schicht durch eine teilweise sehr dünne Bodendekke aus Braunlehm, Braunerde und eine äußerst flache Auflage, die der Fachmann als Rendsina bezeichnet. Dieses relativ kleine Waldstück (11,5 Hektar) läßt sich in drei Teilbereiche untergliedern, den kleinen Südteil, der vom größeren Nordteil durch eine Straße getrennt ist, die Warstein und Suttrop miteinander verbindet, und eine Kahlfläche, die sich an den Nordteil anschließt. Die sehr unterschiedliche Hanglage wechselt von einer sanften Neigung im südlichen Bereich bis zu teilweise schroffem Abfall in den anderen Teilen.
Auf den ersten Blick erkennt man die Vorherrschaft zweier Baumarten, der Stieleiche (Quercus robur) und der Hainbuche (Carpinus betulus). Ihre Kronendecke ist so offen, daß sie genügend Licht durchläßt, um den darunterliegenden Schichten die Möglichkeit zu geben, sich in ihrer charakteristischen Fülle zu entfalten. In die genannten vorherrschenden Baumarten eingestreut finden sich besonders die Rotbuche (Fagus silvatica) und die Eberesche (Sorbus aucuparia). Ein etwas eigenartig anmutender Freiraum im Nordteil ist dadurch entstanden, daß man hier vor einigen Jahren einen Fichtenbestand entfernt hat, der wie ein Fremdkörper den Gesamteindruck des Waldes störte.
In der Strauchschicht herrschen Weißdornarten vor (Crataegus monogyna und oxyacantha), daneben findet sich noch eine Reihe weiterer Sträucher wie z. B. Rote Heckenkirsche (Lonicera xylosteum), die Brom- und Himbeere (Rubus fruticosus und idaeus), Schwarzer- und Traubenholunder (Sambucus nigra und racemosa), Liguster (Ligustrum vulgare) und Hasel (Corylus avellana).
Der besondere Reiz des Oberhagens aber findet sich in der Schicht der Bodenpflanzen. Um diese Pflanzenvielfalt voll zu erleben, sollte man sich eigentlich die Zeit nehmen, den Wald im Wechsel der Jahreszeiten immer wieder neu zu erleben. Schon früh nach der Schneeschmelze überzieht sich der Boden mit einem wahren Teppich aus Weißen und Gelben Buschwindröschen (Anemone nemorosa und ranunculoides), wobei die letztere Art allgemein Kalkgebieten den Vorzug gibt.
Schön anzusehen ist auch das Lungenkraut (Pulmonaria officinalis), das einmal auffällt durch seine hellgefleckten Blätter, zum anderen uns auch durch das Farbenspiel seiner Blüten vom Rot zum Rot- bis Blauviolett und schließlich hin zum Blau erfreut. Daneben treten unter den Frühblühern noch das Scharbockskraut (Ficaria verna), das Waldveilchen (Viola silvatica), die Große Sternmiere (Stellaria nemorum) und der gefleckte Aronstab (Arum maculatum) hervor, dessen Blütenstand mit seinem blaßgrünen Hochblatt häufig erst entdeckt wird, wenn er seine leuchtendroten Beerenfrüchte entwickelt hat. Uber das Gelände verstreut findet man weiterhin drei Weißwurzarten (Polygonatum verticillatum, odoratum und multiflorum). Selten geworden ist die Vierblättrige Einbeere (Paris quadrifolia), die einen schwarzen Fruchtknoten trägt und in der Stellung ihrer Blätter entfernt einem Kleeblatt ähnelt. Hin und wieder, jedoch nicht in jedem Jahr, trifft man auf das Stattliche Knabenkraut (Orchis mascula), eine Orchideenart, die auch an anderen Orten (Hohe Liet, Piusberg, Lörmecketal besonders im Bereich des Hohlen Steins) gedeiht. Sehr selten ist die Bleiche Nestwurz (Neottia nidus avis) in unmittelbarer Nähe der alten Erzgruben.
Nun aber zu dem eigentlichen floristischen Leckerbissen, um dessentwillen allein schon ein Gang durch den Oberhagen lohnt. Gemeint ist die Türkische Lilie, Türkenlilie, Türkenbundlilie, Türkische Bundlilie oder wie immer sie auch genannt werden mag (Lilium martagon). Ihren Namen hat sie von der Form ihrer 4 - 6 rötlichbraunen Blüten, die an türkische Turbane erinnern. Sie ist in ca. 500 Exemplaren über das Gelände verstreut zu finden, dabei vorzugsweise in den südlicheren Bereichen. Diese völlig geschützte Pflanze hat hier im Warsteiner Raum ihren einzigen und in Deutschland ihren nördlichsten Standort. Während heute Liebhaber hin und wieder, wenngleich auch meist vergeblich, versuchen, sie auszupflanzen, war im Mittelalter besonders ihre goldgelbe Zwiebel von Interesse. Alchimisten versuchten, aus ihr durch Auspressen Goldsaft zu gewinnen, der dann die Grundlage zur Herstellung des so beliebten gelben Metalls darstellen sollte. Ob diese Bemühungen von Erfolg gekrönt waren, bleibt anzuzweifeln. Ihre größte Blütenpracht entfaltet diese Pflanze besonders in der Wende von Mai zum Juni.
Weiße Blüten zeigen die Sanikel (Sanicula europaea), die Bibernelle (Pimpinella major) und die Waldengelwurz (Angelica silvestris), wobei sich mit dem Namen der letztgenannten Art recht unfromme Gedanken verbinden, d. h. daß ihre Wurzel ein Gift enthält, mit dem man einen ungeliebten Mitmenschen zum „Engel“ machen kann. Dazu eignet sich allerdings auch der Gefleckte Schierling (Conium maculatum), der an einigen Wegrändern wächst.
Weiter erwähnt seien noch drei verschiedene Hahnenfußarten, der Wollige, Scharfe und Goldhahnenfuß (Ranunculus lanuginosus, acer und auricomus), der Gemeine Waldziest (Stachys silvatica), der Zarte Mauerlattich (Mycelis muralis), der Waldmeister (Asperula odorata), der gelegentlich mit dem Waldlabkraut (Galium aparine) verwechselt wird. Wer allerdings glaubt, nur Grün zu sehen, hat mit ziemlicher Sicherheit das Waldbingelkraut (Mercurialis perennis) vor sich, das in wahren Massen auftritt und den Blick auf interessantere Arten versperrt.
Auch die Kahlfläche hat ihre eigenen Reize. Gelbgolden leuchten die Blüten der Goldrute (Solidago virgaurea) und des Tüpfeljohanniskrauts (Hypericum perforatum), das in Anlehnung an eine alte Legende auch Jungfraubettstroh genannt wird. Zum Herbst hin färbt sich dieses Gebiet mehr rot, da sich jetzt

Mit einem Blick auf den Hohen Stein in unmittelbarer Nähe soll der Jahresgang durch den Oberhagen abgeschlossen werden.
In dieser Beschreibung sollten die charakteristischen Arten erwähnt werden. An Hand von Bestimmungsbüchern lassen sich die vielen ungenannt gebliebenen Arten durch den Wanderer selbst bestimmen.
Ziel dieses Beitrages ist es, den Blick darauf zu lenken, daß es auch in der Heimat Schönes, Sehens- und Erhaltenswertes gibt. Daß sich dabei der Oberhagen als ein besonders glückliches Beispiel anbietet besagt aber nicht, daß es nicht noch andere lohnenswerte florenreiche Gebiete im Warsteiner Raum gibt, sei es der Bereich des Lörmecketals, sei es der Piusberg oder die Hohe Liet oder der Hamorsbruch am Stimm-Stamm oder sei es auch nur irgendein „unbedeutender“ Fleck am Rande eines Feld oder Waldweges.

Aus dem Original mittels Texterkennung gescannt, anschließend manuell korrigiert (Fehler können durchaus übersehen worden sein!). Die Seitenangaben des Originals sind in den Textnachgetragen.
Stefan Enste, Warstein-Hirschberg, Januar 2006