Der Oberhagen
Aloys Hecker
Nicht
erst jetzt, da der Blick für die Natur durch die fortschreitende
Zerstörung der Umwelt geschärft worden ist, sondern auch schon
in früheren Jahrzehnten galt der Oberhagen auf der Höhe zwischen
den Stadtteilen Warstein und Suttrop als floristisches Prunkstück
des heimischen Raumes. So findet auch heute noch und hoffentlich noch
lange der Wanderer, der dieses kleine Waldgelände mit offenen Augen
durchstreift, eine Fülle teils seltener Arten.
Um den Oberhagen voll erfassen zu können, sollte man sich jedoch
nie allein auf seine Flora beschränken. Auch die Geschichte und
die Geologie dieses Raumes geben interessante Aufschlüsse. In früherer
Zeit reichte das Waldge¬lände bis in den Bereich der jetzigen
B 55. Steht man jetzt am Westrande des Oberhagens, so hat man einerseits
einen weiten Blick über die Talsenke der Wäster, andererseits
gewahrt man aber auch die zerstörerischen Eingriffe des Menschen
in die Landschaft. Hier z. B. ist die gesamte westliche Hangseite durch
die Arbeit eines Steinbruchbetriebes verloren gegangen. Ein markantes
Felsmassiv, der Hohe Stein, ist allerdings nicht durch Abbruchtätigkeit
entstanden, sondern natürlichen Ursprungs.
Eine weitere Auffälligkeit stellt eine tiefe Grube im mittleren
Bereich des Waldes dar. Die rötlichbraune Färbung der steil
abfallenden Wände weist daraufhin, daß es sich hierbei um
eine Eisenerzgrube handelt, die Grube „Rom“, aus der im
Tagebau Rot- und Brauneisenerze gefördert wurden. Diese Förderung
wurde allerdings im 19. Jahrhundert wegen Unrentabilität wieder
eingestellt.
Forstwirtschaftlich ist der Oberhagen von geringer Bedeutung. In vergangenen
Zeiten wurde er in Form eines Niederwaldes für die Brennholzgewinnung
und die Schweinehude genutzt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
entwickelte er sich zum Hochwald, wie er heute noch vorhanden ist.
Den geologischen Untergrund bildet der für den Warsteiner Raum
typische 500 bis 700 Meter mächtige Massenkalk devonischen Ursprungs,
der nicht nur die Basis für eine charakteristische Kalkflora, sondern
in verschiedenen Stadtteilen auch für die wirtschaftliche Nutzung
in vielen Kalksteinbrüchen bietet. Überlagert wird diese Schicht
durch eine teilweise sehr dünne Bodendekke aus Braunlehm, Braunerde
und eine äußerst flache Auflage, die der Fachmann als Rendsina
bezeichnet. Dieses relativ kleine Waldstück (11,5 Hektar) läßt
sich in drei Teilbereiche untergliedern, den kleinen Südteil, der
vom größeren Nordteil durch eine Straße getrennt ist,
die Warstein und Suttrop miteinander verbindet, und eine Kahlfläche,
die sich an den Nordteil anschließt. Die sehr unterschiedliche
Hanglage wechselt von einer sanften Neigung im südlichen Bereich
bis zu teilweise schroffem Abfall in den anderen Teilen.
Auf den ersten Blick erkennt man die Vorherrschaft zweier Baumarten,
der Stieleiche (Quercus robur) und der Hainbuche (Carpinus betulus).
Ihre Kronendecke ist so offen, daß sie genügend Licht durchläßt,
um den darunterliegenden Schichten die Möglichkeit zu geben, sich
in ihrer charakteristischen Fülle zu entfalten. In die genannten
vorherrschenden Baumarten eingestreut finden sich besonders die Rotbuche
(Fagus silvatica) und die Eberesche (Sorbus aucuparia). Ein etwas eigenartig
anmutender Freiraum im Nordteil ist dadurch entstanden, daß man
hier vor einigen Jahren einen Fichtenbestand entfernt hat, der wie ein
Fremdkörper den Gesamteindruck des Waldes störte.
In der Strauchschicht herrschen Weißdornarten vor (Crataegus monogyna
und oxyacantha), daneben findet sich noch eine Reihe weiterer Sträucher
wie z. B. Rote Heckenkirsche (Lonicera xylosteum), die Brom- und Himbeere
(Rubus fruticosus und idaeus), Schwarzer- und Traubenholunder (Sambucus
nigra und racemosa), Liguster (Ligustrum vulgare) und Hasel (Corylus
avellana).
Der besondere Reiz des Oberhagens aber findet sich in der Schicht der
Bodenpflanzen. Um diese Pflanzenvielfalt voll zu erleben, sollte man
sich eigentlich die Zeit nehmen, den Wald im Wechsel der Jahreszeiten
immer wieder neu zu erleben. Schon früh nach der Schneeschmelze
überzieht sich der Boden mit einem wahren Teppich aus Weißen
und Gelben Buschwindröschen (Anemone nemorosa und ranunculoides),
wobei die letztere Art allgemein Kalkgebieten den Vorzug gibt.
Schön anzusehen ist auch das Lungenkraut (Pulmonaria officinalis),
das einmal auffällt durch seine hellgefleckten Blätter, zum
anderen uns auch durch das Farbenspiel seiner Blüten vom Rot zum
Rot- bis Blauviolett und schließlich hin zum Blau erfreut. Daneben
treten unter den Frühblühern noch das Scharbockskraut (Ficaria
verna), das Waldveilchen (Viola silvatica), die Große Sternmiere
(Stellaria nemorum) und der gefleckte Aronstab (Arum maculatum) hervor,
dessen Blütenstand mit seinem blaßgrünen Hochblatt häufig
erst entdeckt wird, wenn er seine leuchtendroten Beerenfrüchte
entwickelt hat. Uber das Gelände verstreut findet man weiterhin
drei Weißwurzarten (Polygonatum verticillatum, odoratum und multiflorum).
Selten geworden ist die Vierblättrige Einbeere (Paris quadrifolia),
die einen schwarzen Fruchtknoten trägt und in der Stellung ihrer
Blätter entfernt einem Kleeblatt ähnelt. Hin und wieder, jedoch
nicht in jedem Jahr, trifft man auf das Stattliche Knabenkraut (Orchis
mascula), eine Orchideenart, die auch an anderen Orten (Hohe Liet, Piusberg,
Lörmecketal besonders im Bereich des Hohlen Steins) gedeiht. Sehr
selten ist die Bleiche Nestwurz (Neottia nidus avis) in unmittelbarer
Nähe der alten Erzgruben.
Nun aber zu dem eigentlichen floristischen Leckerbissen, um dessentwillen
allein schon ein Gang durch den Oberhagen lohnt. Gemeint ist die Türkische
Lilie, Türkenlilie, Türkenbundlilie, Türkische Bundlilie
oder wie immer sie auch genannt werden mag (Lilium martagon). Ihren
Namen hat sie von der Form ihrer 4 - 6 rötlichbraunen Blüten,
die an türkische Turbane erinnern. Sie ist in ca. 500 Exemplaren
über das Gelände verstreut zu finden, dabei vorzugsweise in
den südlicheren Bereichen. Diese völlig geschützte Pflanze
hat hier im Warsteiner Raum ihren einzigen und in Deutschland ihren
nördlichsten Standort. Während heute Liebhaber hin und wieder,
wenngleich auch meist vergeblich, versuchen, sie auszupflanzen, war
im Mittelalter besonders ihre goldgelbe Zwiebel von Interesse. Alchimisten
versuchten, aus ihr durch Auspressen Goldsaft zu gewinnen, der dann
die Grundlage zur Herstellung des so beliebten gelben Metalls darstellen
sollte. Ob diese Bemühungen von Erfolg gekrönt waren, bleibt
anzuzweifeln. Ihre größte Blütenpracht entfaltet diese
Pflanze besonders in der Wende von Mai zum Juni.
Weiße Blüten zeigen die Sanikel (Sanicula europaea), die
Bibernelle (Pimpinella major) und die Waldengelwurz (Angelica silvestris),
wobei sich mit dem Namen der letztgenannten Art recht unfromme Gedanken
verbinden, d. h. daß ihre Wurzel ein Gift enthält, mit dem
man einen ungeliebten Mitmenschen zum „Engel“ machen kann.
Dazu eignet sich allerdings auch der Gefleckte Schierling (Conium maculatum),
der an einigen Wegrändern wächst.
Weiter erwähnt seien noch drei verschiedene Hahnenfußarten,
der Wollige, Scharfe und Goldhahnenfuß (Ranunculus lanuginosus,
acer und auricomus), der Gemeine Waldziest (Stachys silvatica), der
Zarte Mauerlattich (Mycelis muralis), der Waldmeister (Asperula odorata),
der gelegentlich mit dem Waldlabkraut (Galium aparine) verwechselt wird.
Wer allerdings glaubt, nur Grün zu sehen, hat mit ziemlicher Sicherheit
das Waldbingelkraut (Mercurialis perennis) vor sich, das in wahren Massen
auftritt und den Blick auf interessantere Arten versperrt.
Auch die Kahlfläche hat ihre eigenen Reize. Gelbgolden leuchten
die Blüten der Goldrute (Solidago virgaurea) und des Tüpfeljohanniskrauts
(Hypericum perforatum), das in Anlehnung an eine alte Legende auch Jungfraubettstroh
genannt wird. Zum Herbst hin färbt sich dieses Gebiet mehr rot,
da sich jetzt
Mit einem Blick auf den Hohen Stein in unmittelbarer
Nähe soll der Jahresgang durch den Oberhagen abgeschlossen werden.
In dieser Beschreibung sollten die charakteristischen Arten erwähnt
werden. An Hand von Bestimmungsbüchern lassen sich die vielen ungenannt
gebliebenen Arten durch den Wanderer selbst bestimmen.
Ziel dieses Beitrages ist es, den Blick darauf zu lenken, daß
es auch in der Heimat Schönes, Sehens- und Erhaltenswertes gibt.
Daß sich dabei der Oberhagen als ein besonders glückliches
Beispiel anbietet besagt aber nicht, daß es nicht noch andere
lohnenswerte florenreiche Gebiete im Warsteiner Raum gibt, sei es der
Bereich des Lörmecketals, sei es der Piusberg oder die Hohe Liet
oder der Hamorsbruch am Stimm-Stamm oder sei es auch nur irgendein „unbedeutender“
Fleck am Rande eines Feld oder Waldweges.
Aus dem Original mittels Texterkennung gescannt, anschließend
manuell korrigiert (Fehler können durchaus übersehen worden
sein!). Die Seitenangaben des Originals sind in den Textnachgetragen.
Stefan Enste, Warstein-Hirschberg, Januar 2006
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